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Volksentscheide auf Bundesebene

Die CSU veranstaltet gerade eine Mitgliederbefragung, ob sich die CSU für Volksentscheide auf Bundesebene einsetzen soll.

Natürlich. Ich bin für einen politisch aufgeklärten Bürger, der sich aktiv in die Entscheidungsprozesse einbringt, und nichts hört sich besser an als direkte Demokratie durch Volksentscheide:

  • Der politische Prozess wird belebt,
  • die Bürgerbeteiligung wird gestärkt
  • unbeliebte, durchgewunkene Themen wie TTIP können vom Souverän beerdigt werden

 

So dachte ich teilweise auch, bevor ich im Stadtrat die andere “Politikerseite” kennen gelernt habe.

Entscheidungen leben und verändern sich während der Diskussion

Am Anfang kommt ein Antrag in das Gremium oder in den Volksentscheid. In jedem Fall kann man nur mit JA oder NEIN stimmen. Aber im Gremium wird um Kompromisse gerungen und viele Abstimmungsvorlagen werden angepasst, bevor sie zur Abstimmung kommen. Dieses zentrale Element unserer Entscheidungsfindung, die Kompromissfähigkeit, fehlt im Volksentscheid vollkommen.

Führt die Volksentscheidung zu mehr Politikbegeisterung oder zur Abstumpfung?

Wir ärgern uns, dass die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl von rund 80% vor 20 Jahren inzwischen auf 71% gesunken ist.
Die “superdemokratische” Schweiz hatte bei Ihren letzten Nationalratswahlen 2015 eine Wahlbeteiligung von 48,5% und bei den ganzen Referenden eine durchschnittliche Stimmbeteiligung von 42,8%. Wenn wir eine solch katastrophal niedrige Wahlbeteiligung hätten, würde man das Ende der Demokratie ausrufen, und jetzt sollen solche in der Praxis kaum genutzten Instrumente die Demokratie retten?
Die Wahlbeteiligung beim bayerischen Volksentscheid Nichtraucherschutz lag bei 37,7%. Wenn es wirklich abseits der Populisten beliebt wäre, warum hat das Instrument Volksentscheid dann so geringe Akzeptanz?

Es wird einen Dauerwahlkampf geben

Nicht nur alle 4 Jahre, sondern zu jedem Volksentscheid wird ein Wahlkampf veranstaltet werden. Die Phasen für Sacharbeit werden immer kürzer sein.

Unsere Gesellschaft ist sehr gut ausjustiert

Das Bürgerliche Gesetzbuch von 1896 regelt unser Zusammenleben, das Grundgesetz von 1949 unser Staatswesen. Jede neuere Änderung ist immer komplizierter und umfangreicher. Die einfachen Entscheidungen wurden in den letzten 120 Jahren getroffen, und es bleiben nur immer kompliziertere Entscheidungen übrig, die immer mehr Interessen abwägen müssen. Das erfordert intensive Beschäftigung mit der Materie. Fast immer dreht es sich um Geld, kaum jemand ist Buchhalter; die öffentliche Variante, die Kameralistik verstehe ich jetzt nach 3 Jahren Stadtrat langsam. Ich behaupte, dass sie noch nicht alle Stadträte verstehen, die viel länger dabei sind. Je höher man kommt, desto komplexer werden die Haushalte und um so mehr Einarbeitung benötigt man um eine fundierte Entscheidung treffen zu können. Vieles ist absurd umständlich, z.B. das Vergaberecht, und man kann dutzende Aspekte nennen, die zu “Steuerverschwendung” führen, weil die öffentliche Hand Aufträge vergibt, wie sie Privatpersonen oder Unternehmen nie vergeben würden. Doch wenn man sich intensiv mit der Materie beschäftigt, erkennt man den Sinn hinter jeder Regelung und versteht, warum sie so ist und warum das besser ist als vermeintlich einfachere Regelungen. Das meine ich mit “sehr gut ausjustiert”. Und man sollte sich intensiv mit dem System beschäftigen, bevor man es mal eben am Sonntag mit einer JA/NEIN-Entscheidung einreißt.

Apropos einreißen

Wenn man sich mal die Themen in der Diskussion mal vor Augen führt, werden Volksentscheide werden in der Regel destruktiv eingesetzt: Wir wollen keine Raucher, keine Minarette (Schweiz), keine Ausländer und Flüchtlinge (Schweiz), kein TTIP, keine Stromleitungen, Autobahnen, Bahnschienen, Kälberställe oder Kraftwerke vor meiner Haustür, keinen Bahnhof in Stuttgart usw. Dagegen, Dagegen, Dagegen. Wo bleibt die Gestaltung?

Von einem Brexit aus einer Laune mit den Milliardenschäden für alle Beteiligten will ich gar nicht reden. Und hier hat sich die vierte Gewalt im Staat, die Medien, nicht gerade mit Ruhm bekleckert, sondern mit falsche Fakten und unterlassenen Nachfragen noch Öl ins Feuer gegossen. Postfaktisches Zeitalter par excellence.

Entschleunigung tut gut, trotzdem ist viel Veränderung möglich

Siehe die Parteigründungen wie Grüne, PDS, WASG, Linke, Piratenpartei und AfD. Wenn ein vorhandenes Defizit nur genug Leidensdruck erzeugt und von den vorhandenen Parteien nicht adressiert wird, bildet sich neue Parteien, die auch ohne große Hürden in die Parlamente einziehen und so für eine Veränderung in der Politik und Gesellschaft sorgen. Die Grünen haben den Umweltschutz etabliert, die Linke stärken die Sozialversicherungen, die Piratenpartei hat die Netzpolitik etabliert und die AfD artikuliert nationale und asylkritische Aspekte. Auch ohne Volksentscheide finden Themen in ausreichender Geschwindigkeit Rückkopplung in der Politik.

Rosinenpickerei statt Demokratie

Unsere Demokratie lebt vom Engagement. In Parteien und offenen Listen kann jeder um Ämter kandidieren und, wenn der Kandidat das Vertrauen der Wähler bekommt, dann alle Aspekte dieser Einheit (Kommune, Land, Bund) entscheiden und miteinander abwägen. Man hat immer das gesamte System und die gesamte Gesellschaft im Auge.
Leider lässt sich feststellen, dass sich immer weniger Bürger für das große ganze System interessieren, sondern sich nur punktuell für die eigenen Interessen in Bürgerinitiativen und Volksabstimmen engagieren. Der Rest ist ihnen egal: “ich gehe zu der einen Volksentscheidung, die mich interessiert und zu den anderen zwei gehe ich nicht”. Das ist die Erklärung für die Wahlbeteiligung von +-40% bei Volksentscheiden. Das empfinde ich als Rosinenpickerei und keine aufgeklärte Demokratie.

Fazit

Je mehr ich über Volksentscheide nachdenke, desto weniger gefallen sie mir.

Daher kann ich diese Fragestellung der CSU-Mitgliederbefragung nur mit NEIN beantworten.

So lautet der Abstimmungstext der CSU-Mitgliederbefragung:

Soll sich die CSU für die Einführung von Volksentscheiden auf Bundesebene einsetzen?

[ ] JA

[ ] NEIN

Hintergrund:

In das neue Grundsatzprogramm soll folgender Aspekt aufgenommen werden:

  • Die CSU möchte künftig auch im Bund das Volk bei grundlegenden Fragen direkt beteiligen. Insbesondere bei nicht zu revidierenden Weichenstellungen und bei europäischen Fragen von besonderer Tragweite soll die Bevölkerung in Abstimmungen entscheiden. Ein Beispiel wäre die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten in die EU.
  • Auch das Grundgesetz soll durch Volksentscheid mit Zweidrittel-Mehrheit geändert werden können. Die Bayerische Verfassung kann bereits durch Volksentscheid geändert werden und soll als Vorbild dienen. Der Wesenskern der Verfassung (Ewigkeitsgarantie), der Grundrechte und der föderalen Ordnung ist davon ausgenommen. Ein Beispiel wäre die Aufnahme unserer Leitkultur ins Grundgesetz.
  • Volksentscheide sollen nur gültig sein, wenn sich ein ausreichender Teil der Bevölkerung beteiligt hat.

Kommentare

Thomas Moser
Antworten

Grundgesetz ist doch keine Verfassung des Volkes. Sondern eine administrative Anordnung von 1948+ zur Regulierung des Besatzungsgebiets, das es heute noch gibt (BRiD). Inkludiert der Atomwaffen auf westdeutschem Boden … Ramstein etc. Ist das Souveränität?

„Volksentscheide sollen nur gültig sein, wenn sich ein ausreichender Teil der Bevölkerung…“ Wer ist wo wie ausreichend? Machen das die CSU oder Berlin? Da hört man nichts.

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